Städtebaulich relevanter Kaufkraftabfluss: Worst-Case-Szenario notwendig!

§ Kommentar


Städtebaulich relevanter Kaufkraftabfluss: Worst-Case-Szenario notwendig!

Zu OVG Münster, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 7 D 18/13.NE –.

24. Juli 2015

 

Im Rahmen der Schaffung bauplanungsrechtlicher Voraussetzungen für die Realisierung von (insbesondere großflächigen) Vorhaben des Einzelhandels haben die Gemeinden die absatzwirtschaftlichen Auswirkungen (auch bezeichnet als Kaufkraftabflüsse, Umlenkungseffekte, Kaufkraftumverteilungen) des Vorhabens zu prüfen und auf ihre städtebauliche Relevanz hin zu bewerten. Das OVG Münster hat sich am 2. Oktober 2013 hiermit befasst und dabei einige Klarstellungen formuliert, die die Beurteilung der absatzwirtschaftlichen Auswirkungen von Einzelhandelsvorhaben konkretisieren.

Konkret hatte das OVG[1] im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens über einen Bebauungsplan zur Festsetzung eines „Sondergebiet Möbelhaus“ zu entscheiden, der die bauplanungsrechtliche Voraussetzung für ein Einzelhandelsvorhaben (Möbelhaus) mit 45 000 m² Verkaufsfläche schaffen sollte. Der Bebauungsplan wurde vom OVG Münster für unwirksam erklärt. Die antragstellende Gemeinde hatte im Rahmen der Auslegung des Planentwurfes mit Umweltbericht und Begründung sowie der Gutachten die Auswirkungsanalyse der Antragsgegnerin als nicht ausreichendes Abwägungsmaterial für die Beurteilung der Auswirkungen des Vorhabens gemäß § 11 Abs. 3 BauNVO beurteilt. Sie leitete aus dem Vorhaben zudem erhebliche negative Auswirkungen auf ihre Einzelhandelsstruktur und ihre zentralen Versorgungsbereiche ab. Ferner bemängelte sie die im Marktgutachten angesetzte Flächenproduktivität mit 2.070 Euro/m² als zu niedrig. Die Antragsgegnerin legte daraufhin eine überarbeitete Verträglichkeitsanalyse aus. Die Antragstellerin wandte daraufhin unter Bezugnahme auf vorliegende Stellungnahmen von Sachverständigen ein, sie sei in ihrer kommunalen Planungshoheit und zudem das interkommunale Abstimmungsgebot verletzt worden. Sie merkte an, dass auch die überarbeitete Verträglichkeitsanalyse nicht den Anforderungen entspräche. Die Antragsgegnerin beschloss den Bebauungsplan im weiteren Verfahren als Satzung, woraufhin die Antragstellerin eine Normenkontrollklage einreichte.

Gemäß des interkommunalen Abstimmungsgebotes (§ 2 Abs. 2 Satz 1 BauGB) hat die planende Gemeinde zu prüfen, ob durch ein Vorhaben ein relevanter Kaufkraftabfluss und unzumutbare Beeinträchtigungen zentraler Versorgungsbereiche und des Standortsystems auch benachbarter Gemeinden zu erwarten sind. In der Regel wird hierbei der erwartete Kaufkraftabfluss aus der Multiplikation der zu erwartenden durchschnittlichen branchenüblichen Flächenproduktivität pro m² Verkaufsfläche mit der Gesamtverkaufsfläche des Vorhabens multipliziert. Der damit berechnete erwartete Gesamtumsatz des Vorhabens wird daraufhin mit der vorhandenen branchenspezifischen Kaufkraft im Einzugsbereich in Verbindung gesetzt. Der somit berechnete erwartete Kaufkraftabfluss aus anderen Standorten wird in der Regel durch ein sogenanntes Marktgutachten ermittelt.[2] Das Gericht hat in der vorliegenden Entscheidung das dem Bebauungsplan zu Grunde liegende Marktgutachten betrachtet und Mängel festgestellt. Ohnehin wurde der Bebauungsplan aufgrund weiterer Mängel als unwirksam erklärt.

Das Verträglichkeitsgutachten der Antragsgegnerin hatte eine Flächenproduktivität von 2.070 Euro/m² Verkaufsfläche angesetzt. Die beigeladene Vorhabenträgerin gab jedoch einen Brutto-Jahresumsatzes in Höhe von 794 Mio. Euro auf ca. 185.000 qm bis 215.000 qm Gesamtverkaufsfläche in der gesamten hier behandelten Möbelhauskette an. Die Gutachten der Antragstellerin ermittelten unter Abzug des auf den Versandhandel und die Umsätze der Gastronomie entfallenden Anteils eine Flächenproduktivität von 3.300 Euro/m² Verkaufsfläche.

Das OVG Münster urteilte hierzu, dass für die Beurteilung des Kaukraftverlustes im Rahmen des interkommunalen Abstimmungsgebotes „eine – realitätsnahe – Betrachtung des worst-case, also des aus Sicht der Nachbargemeinden unter realistischen Annahmen ungünstigsten Falles“ notwendig ist. Zwar handelte es sich im vorliegenden Fall nicht um einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan, jedoch war die Antragsgegnerin angehalten, die Abwägung der konkret auf ein Vorhaben abzielenden Angebotsplanung auf das zu entwickelnde Vorhaben einzustellen. Dieses ist unter realitätsnaher Betrachtung des worst case für die Ermittlung des Kaufkraftabflusses maßgeblich. Zudem wurde der im Rahmen der Einschätzung der Wettbewerbssituation angegebene 30 Minuten Fahrzeitradius als zu eng beurteilt. Er steht zudem im Widerspruch zu eigenen Einschätzungen des Gutachters der Antragsgegnerin. Das OVG Münster beurteilte den Abwägungsmangel als erheblich, da er Einfluss auf das Ergebnis der Abwägung nimmt.

Hieraus ergibt sich, dass im Rahmen der Abwägung für einen Angebotsbebauungsplan bzw. einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan für einen konkreten Betreiber dessen besondere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen ist.[3] Dies bedeutet, dass bei Vorliegen einer gegenüber den marktüblichen Flächenproduktivitätskennziffern höheren durchschnittlichen Flächenproduktivität des Betreibers dessen betreiberspezifische Flächenproduktivität für den worst case anzusetzen ist. Andernfalls ist bei einer gegenüber den marktüblichen Flächenproduktivitätskennziffern geringeren durchschnittlichen Flächenproduktivität des Betreibers trotzdem auf marktübliche Kennziffern zurückzugreifen, da der Betreiber in der Regel bestrebt sein sollte, diese zu erzielen. Konkret wird es hierbei auf den zu beurteilenden Einzelfall ankommen. Durch verschiedene Umsatzumfelder allein sei dies jedenfalls nicht zu belegen.

Im Übrigen kann bei Fehlen der betreiberspezifischen Flächenproduktivitätskennziffern das worst case Szenario auf Grundlage branchenüblicher Zahlen ermittelt werden. Dem Betreiber steht es hierbei offen, im Rahmen der Abwägung entsprechend eigene Zahlen zur Verfügung zu stellen, um dadurch möglicherweise von marktüblichen Kennziffern abweichende Daten vorzulegen und durch entsprechende Begründung in das Szenario einfließen zu lassen.


[1] OVG Münster, Urteil vom 02. Oktober 2013 – 7 D 18/13.NE, openJur 2013, 41059.

[2] Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. August 2011 – 4 BN 15.11 -, BRS 78 Nr. 49.

[3] Bischopink, Olaf (2015): Rechtliche Anforderungen an sogenannte Markt- oder Verträglichkeitsgutachten zur Vorbereitung bauleitplanerischer Abwägungsentscheidungen über die Zulassung von großflächigen Einzelhandelsvorhaben, in: BauR – Baurecht, H. 4, S. 588–595.